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Even Death cries

deathcries

Das Buch „Die Verbrannten“ von Antonio Ortuño beschreibt die Hölle die Menschen für andere Menschen erschaffen. Sie verdienen damit Geld zu foltern, machen sich einen Spaß aus ihren Morden und vergewaltigen mit einem Achselzucken.

Selbst noch am Rande des in sich zusammenstürzenden Mexiko wird Alltag gelebt. Zu diesem Alltag gehören die Toten auf der Straße, die Massengräber, die Vermissten.

Die Flüchtlinge, die versuchen aus Südamerika durch Mexiko zu kommen, sind ein lohnendes Ziel für die Banden. Für die Öffentlichkeit sind die grausamen Morde an Ihnen oft nur Fußnoten, die neben den „echten Toten“, also ermordeten Mexikanern unwichtig erscheinen.

Nach jedem Massaker wird eine Pressemitteilung die Wogen glätten, jeder getötete Killer hinterlässt ein Dutzend neuer Köpfe die an seine Stelle rücken wollen.

Antonio Ortuño gelingt es in seinem Roman unterschiedlichste Protagonisten zu Wort kommen zu lassen. Sie erzählen die Geschichte vieler Tausender stellvertretend. Dennoch sind sie Figuren mit je eigenem Charakter, keine Klischees.

Es gelingt ihm Gewalt explizit zu beschreiben ohne sie zu verherrlichen.

Der Autor zeigt wie Rassismus und Korruption den Mördern den Weg bereiten und den Verfolgten die Hilfe verwehrt.

Ein wichtiges Buch, das ich mit fünf Pfoten empfehle.

 

 

 

 

Ein leiser Roman, damit die Kinder nicht aufwachen

Im Roman „Die Schwerelosen“ von Valeria Luiselli wird in kurzen Abschnitten erzählt, die auf den ersten Blick aussehen wie Aphorismen.
Die Abschnitte sind so kurz, weil hier eine Mutter schreibt. Sie schreibt, wenn das Baby schläft. Sie schreibt einen leisen Roman, sie schreibt einen Roman in den wenigen Momenten der Ruhe. Die Form des Buches ist durchdrungen von dieser Mutter und ihrer Familie. Die aphoristischen Textstücke sind verschachtelt wie das Haus, in dem die Familie wohnt, und das die Mutter nie verlässt. 
Sie schreibt ein Buch über ihre Zeit als Übersetzerin in einem kleinen Verlag in New York. Die junge Frau lebt am Rande, am Rande ihrer Wohnung, am Rande der Stadt. Sie füllt ihr Leben, ihre Wohnung mit Menschen, mit ihrer Freundin und mit Männern. Doch alles ist in der Schwebe, nichts nimmt eine feste Form an.
Wenn die junge Frau in ihrem roten Mantel durch die Stadt streift sieht sie sich selbst. Unterwegs zu sein, heißt da zu sein.
Eines Tages entdeckt sie in einer Bibliothek Briefe des Dichters Gilberto Owen. Er hatte vor Jahrzehnten nicht weit von ihrer Wohnung entfernt gewohnt. Dieser Dichter fasziniert sie, sie will dass er übersetzt und veröffentlicht wird. In ihr Leben kommt Verbindlichkeit – der Geist des Dichters ist ihr näher als die Lebenden. Manchmal sieht sie ihn in einer parallel fahrenden U-Bahn sitzen.

Wer schreibt, bestimmt das Geschriebene, kann sich in ihm distanzieren, sich verlieren und von der erschaffenen Welt auch bestimmt werden. Die Realität und die Fiktion vermischen sich, mal fruchtbar, mal beschwerend.
Der Ehemann liest immer wieder Textabschnitte seiner schreibenden Frau, liest über ihre Liebschaften, über ihr Innerstes  – und die Familie, ja das ganze Haus drohen auseinanderzubrechen.
Vielleicht schriebt auch Gilberto Owen dieses Buch, schreibt in Philadelphia ein Buch über eine Frau, die in Mexiko City in ihr Haus eingeschlossen ist. Auch das Leben des Dichters ist geprägt von dem Gefühl zu verschwinden. Und manchmal sieht er in der UBahn eine junge Frau in rotem Mantel.

Im Roman „Die Schwerelosen“ von Valeria Luiselli eröffnet sich dem Leser das Spannungsfeld zwischen Ungebundenheit und Familie, Fiktion und Realität, Autorschaft und literarischer Figur,
Intellektualität und Körperlichkeit.
Es handelt vom verschwinden: dem Verlassen einer Stadt, eines Partners, einer Zeit, eines Körpers. Dem Verlassen der Realität. Und vom wieder-auftauchen: aus der Menge, aus einem Buch, aus der Vergangenheit, der Bibliothek, der Zukunft, dem Haus, dem Traum und der Sprache.

Das Buch scheint in viele Notizen zu zerfallen, aber es wird immer klarer, dass sie eine horizontale Komposition bilden. Das Buch ist spannend, voll Witz, Erkenntnis, Schwere und Bedrückendem.
Eine eindeutige Leseempfehlung ohne Wenn und Aber!!!