Archiv für den Monat: März 2013

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do – Beim Lügen die Wahrheit sagen

Literarische Phantasie – wo wäre sie angebrachter als bei dem unbekannten Land, dem weitgehend von der Weltöffenlichkeit abgeschotteten Nordkorea.
Aber wozu einen konkreten Schauplatz wählen, wenn man nicht wirkliche Einblicke geben kann?
Der Autor Adam Johnson verbindet daher in seinem Roman sein Faktenwissen aus vier Jahren Recherchearbeit mit seiner literarischen Imaginationskraft und hat ein beeindruckendes Buch geschrieben.
Der Leser erfährt vieles über Nordkorea und möchte mehr erfahren. Was ist Wahrheit, was Fiktion? Oder ist die nordkoreanische Wahrheit eine Fiktion?
Es geht in diesem Buch um ein faszinierendes und erschütterndes Land und um die Bedeutung des Geschichtenerzählens. Da ist die offizielle Geschichte, erzählt durch staatliche Propaganda, da ist die Geschichte von Jun Do, der so offenherzig und lebenswarm erzählen kann, dass selbst eine Lüge wie Wahrheit klingt. Und da ist die Geschichte des jungen Verhörspezialisten, der gerne die wirklichen Lebensgeschichten der Dissidenten aufzeichnen und seine eigene Biographie schreiben möchte.
Jun Do ist durch bittere Armut und militärische Ausbildung hindurch naiv und offen geblieben. Nun muss schmutzige Aufträge erledigen, er fühlt mit den Opfern, begreift jedoch nicht, wie das System Nordkoreas funktioniert.
Erwachsen wird Jun Do auf einem Schiffkutter, auf dem er das Spiel mit der Propaganda und dem Staatsapparat genauso kennenlernt wie das freiere Leben der Seeleute. Über Funksprüche und eine gefährliche Begegnung auf hoher See hat er auch erstmals Kontakt zum Westen.
Doch auch bei den Seeleuten kommt er nicht zur Ruhe. Ein Mann der nordkoreanischen Geheimpoizei entdeckt Jun Do’s Fähigkeit selbst bei einer Lüge noch die Wahrheit zu sagen, und so wird er Teil einer nordkoreanischen Mission, die ihn mit einem der mächtigsten Männer Nordkoreas in Verbindung bringt. Und schließlich auch mit dem allermächtigsten. Jun Do erlangt im Laufe des Buches die Reife dessen, der alle Illusionen über sich aufgegeben hat. Gleichzeitig bewahrt er in seinem Blick auf das Leben ein geradezu messianisch reines Herz und es gelingt ihm schließlich einen kleinen Teil seiner Wahrheit der Staatsmacht aufzuzwingen.
Die staatliche Propaganda, die im Buch immer wieder zu hören ist hat die Definitionsmacht, unter die sich die Wirklichkeit in skurillen Wendungen und Wirrungen unterordnen muß. An dieser Wirkungsmacht zerbricht der Verhörspezialist, der erkennen muß, das niemand seine Biographien braucht oder will. Und das er sich selbst und seine Nächstem verloren hat, bei dem Versuch im System eine Nische zu finden
In Interviews betont Johnson, er habe Nordkorea weitaus weniger schwarz gezeichnet, als diese Recherche es ihm nahelegte. Doch obwohl ich keinen Augenblick daran zweifle, dass selbst die düstersten Schilderungen des Buches sich in der Wirklichkeit übertroffen finden, scheint der Roman in gewisser Hinsicht zu überzeichnen. Keine der grandios gezeichneten und skizzierten Personen scheint in Nordkorea wirklich heimisch zu sein. Alle Figuren sind bedroht von der inneren Uneinigkeit mit der Diktatur, die nicht nach außen treten darf. So entsteht der Eindruck, dass Glück in diesem Land nicht existierte. Aber mehr noch: Jede der Hauptfiguren ist oder war davon bedroht ins Straflager zu kommen. Die Strände des angeblichen Pensionärsgebietes Wonsan sind leer – kommt in diesem Land jeder einmal ins Lager, der nicht vorher stirbt? In dieser Hinsicht hat Adam Johnson das Land so hoffnungslos schwarz gezeichnet, dass die Wirklichkeit zumindest nicht schlimmer sein kann.
„Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ erschüttert und belebt den Leser zugleich durch die unglaublichen und doch plausiblen Verwicklungen und inspirierenden Charaktere.

„Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ ist ein süchtigmachendes Lesevergnügen, das einmal mehr aufzeigt, dass die real-sozialistische Gesellschaftsordnung letztlich von den gleichen Verwerfungen heimgesucht wird wie die kapitalistische: die Mächtigen profitieren, die Armen hungern und bluten und die Mittelschicht zittert. Die Sonderwirtschaftszonen in Nordkorea,  in denen diese Übereinstimmung der Systeme sich manifestiert, sind jedoch nicht Thema des Buches.
Eine vierpfotige Leseempfehlung für die literarische Annäherung an Nordkorea.