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Über buecherloewin

Ich lese für mein Leben gern Und trage meine Bücher In meinem weichen Löwenmaul Dahin, ganz unversehrt Was ich in meiner Lese-Jagd Verschlinge schreibe ich dann auf Damit auch Euch die Jagd gelinge Nach großer Freude, ja Erkenntnis Und einem neuen Weltverständnis

Selbstmord oder Wenn die Nacht am stillsten ist

Begeht jemand Selbstmord, ist plötzlich alles abgeschnitten. Jede Möglichkeit Kontakt aufzunehmen, noch etwas zu sagen oder zu fragen.
Anna sitzt zu Beginn des Romans „Wenn die Nacht am stillsten ist“ am Bett ihres Geliebten, der sich am morgen von ihr getrennt hatte. Er hat Schlaftabletten genommen, vermutlich um sich umzubringen.
Doch Anna ruft keinen Notarzt. Sie sitzt einfach neben Ludwig. Sitzt an seinem Bett und redet mit ihm über all das wichtige, dass sie ihm nicht gesagt hatte. Und sie stellt ihm ihre Fragen. Antworten kann Ludwig nicht, ob er sie hört ist fraglich, aber er lebt. Noch ist er nicht Abgeschnitten von der Welt, unerreichbar, tot. Vielleicht ist er in diesem Zustand sogar erreichbarer für Anna, als er es in der gesamten Beziehung war.
Ludwig ist einer von Annas Kollegen bei einer Zeitung. Alle hier sind cool, achten auf ihr Styling. Sie hängen nicht wie Anna an Erinnerungsstücken sondern kaufen sie Vintage . Anna passt nicht in diese Welt, doch sie passt sich an. Besonders als sie sich in Ludwig verliebt, der falsche Formulierungen, „Opfergeschichten“ und Schlechtes Styling nicht ertragen kann. Ludwig schreibt hochkomplexe Texte, in der zwischenmenschlichkeit will er jedoch oberflächlich bleiben. Ludwigs Texte suchen eine Wahrhaftigkeit und Stimmigkeit jenseits der Realität. Wichtig, dass sind die richtigen Worte die stimmige Situation, der ausgenutzte Augenblick, die Perfektion.
Anna bemüht sich dem Code Ludwigs gerecht zu werden, so sehr dass sie sich zurücknimmt bis man sie kaum wiedererkennt.
„Wenn die Nacht am stillsten ist“ ist ein beeindruckendes Buch über Selbstmord, ob nun den physischen, den psychischen oder den in einer Beziehung.
Eine Leseempfehlung und vier Pfoten von bookslioness!!!

Wolfgang Borchert – Draußen vor der Tür

Gott sagt zum Tod „Du hast es gut! Du bist der neue Gott. An dich glauben sie. Dich lieben sie. Dich fürchten sie. Du bist unumstößlich. Dich kann keiner leugnen! Keiner lästern. Ja, Du hast es gut. Du bist der neue Gott.“ (Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür, 93. Auflage Rowohlt 2011, S. 10)
Dem Tod geht es gut
Der Tod kann es nicht leugnen. Er ist fett geworden, die Toten sind so zahlreich…erst lagen sie auf dem Schlachtfeld jetzt liegen sie auf der Straße. Jene die den Krieg überlebt haben und doch an ihm gestorben sind.
Das Stück „Draussen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert handelt von einem jungen Heimkehrer aus dem zweiten Weltkrieg. Es beschreibt die Verheerungen, die der Krieg im Inneren des Menschen anrichtet und ist aus diesem Grund auch heute noch aktuell. 
Auch wenn die Soldaten heute finanziell und medizinisch weniger alleine sind, ob sie aus dem Krieg wirklich zurückkehren können, heil werden können steht heute ebenso in Frage wie damals. 
Der fünfundzwanzigjährige Beckmann kehrt mit einem steifen Bein nach Hause. Er war drei Jahre fort und seine Frau hat inzwischen einen anderen. Er will sterben, und doch macht er letzte verzweifelte Versuche weiterzugehen, weiterzuleben. Doch er wird ausgeschlossen, abgewiesen und ignoriert. Einzig ein Mädchen und die (innere?) Stimme eines Anderen wenden sich ihm zu. Aber alle drei sind zu sehr versehrt um sich und den anderen helfen zu können. Beckmann kann die Erlebnisse des Krieges nicht hinter sich lassen, er kann sie nicht kleinreden, sie nicht hinter den Alltag treten lassen. Die Toten liegeen auf seinem Gewissen und die Verantwortung kann er nicht abgeben, auch wenn er seine Befehle hatte. Nur der Tod lacht.
Im Schauspielhaus Bochum wird das Stück zur Zeit in einer hervorragenden Inszenierung gezeigt. Beckmann wird als gespaltene Person von zwei Schauspielern dargestellt. Gott ist ein Penner im Bademantel und der Tod eine fette Spinne, die geduldig wartet bis die beiden Beckmann zu ihr finden. Beckmann vergewaltigt sich selbst, er prügelt sich durch den Tag, er will nicht mehr, er kann nicht mehr, doch er versucht es. Beckmann geht von Tür zu Tür bis zur Tür des Todes, der einzigen die immer offensteht nachdem selbst Gott ein Obdachloser geworden ist. 
Sowohl das Buch als auch die Aufführung machen die düstere Realität des Krieges und seiner Folgen greifbar. Soetwas sollten auch angehende Soldaten sich einmal ansehen. Eine fünf Pfoten Empfehlung für Buch und Aufführung.

Für den Rest des Lebens

Die Kraft der Liebe bindet über Ängste und Enttäuschungen hinweg, sie kann beflügeln und sie kann lähmend und zerstörerisch wirken. In Ihrem neuen Buch „Für den Rest des Lebens“ widmet sich die israelische Autorin Zeruya Shalev den Wirren des Liebens und Geliebtwerdens, des Anhängens und des Abstoßens dreier Generationen einer Familie. Die Allgemeingültigkeit der meisterhaft beschriebenen Verwicklungen von Mann und Frau, Eltern und Kindern, wird noch bereichert von der Beschreibung der besonderen israelischen Umstände. Die besondere Lebensweise im Kibbuz, die allgegenwärtige Bedrohung durch Ungerechtigkeit und Krieg in der Region und die Auswirkungen des Holocaust bestimmen die Geschichte der Familie entscheidend.
Die Geschichte beginnt mit Chemda, die mit Ihren Eltern in einem Kibbuz aufwächst. Der Vater ist ehrgeizig und streng, die Mutter größtenteils abwesend. Chemda ist eine Geschichtenerzählerin und Träumerin, doch der Vater, der sie erzieht, will aus Angst vor diesen unnormalen Eigenschaften ein praktisches, mutiges und normales Mädchen aus ihr machen. Die Schläge und Einschüchterungen des Vaters und die Abwesenheit der Mutter hindern Chemda an der Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Gefühle.
Warum binden wir uns an den Einen und nicht an den Anderen? Tut die Liebe uns gut, können wir sie erwiedern? Wann liebt ein Kind seine Eltern, und wann lieben die Eltern ihr Kind? Wann ist Liebe einengend, wann befreiend? Warum verwandelt sie sich manchmal in einen Kreislauf des Hasses? Diese Fragen beschäftigen Chemda und ihre Kinder Dina und Avner sowie ihre Partner und Kinder. Und auch wenn diese Fragen niemals völlig geklärt werden können, so entdecken Shalevs Figuren und wir mit Ihnen Entscheidendes dazu. Geschichten müssen erzählt werden, Nähe ist möglich und auch das Verzeihen. Insbesondere dann wenn aufgesetzte Vorstellungen abgestriffen und Barrieren fallengelassen werden können. Das Schmerzhafte können wir nicht abschaffen. Aber wenn es gelingt Raum zu schaffen, Raum in dem das Schmerzhafte, das Selbst, der Andere keinen Haß erzeugt, dann tut es sehr viel weniger weh.
Dringende Leseempfehlung von mir!!!
5 pfoten copy

Mascha Kaleko – In meinen Träumen läutet es Sturm

Mascha Kaleko war eine beeindruckende Frau und ist eine beeindruckende Lyrikerin. Ihre Gedichte sind lakonisch und doch gefühlvoll. Sie dichtet genauso treffend und zeitlos über die Liebe wie über die Polizei. Im Gedichtband „In meinen Träumen läutet es Sturm“ sind sämtliche unveröffentlichte Gedichte aus Mascha Kalekos Nachlass versammelt. Sie geben Einblick in Ihr Leben mit der Lyrik: Die frühen Jahre, das Exil, die letzte Zeit ihres Lebens.
Zum Abschluss bietet der Band noch einen sehr lesenswerten biographischen Text.
Gedichte sind nichts hochtrabendes unverständliches, abgehobenes.
Sie verdichten den Inhalt, schärfen ihn durch ihre Form – wenn man sich nur darauf einlässt sie zu lesen, sprechen sie oftmals direkter als ein langer Roman. Das gilt besonders für die Gedichte von Mascha Kaleko.

Unbedingt lesen! Fünf Pfoten…

Der Roman von Jennifer Egan – Wie ein gutes Mixtape

Der Roman ‚A visit from the goon squad‘ von Jennifer Egan hat den Pulitzer Preis 2011 gewonnen, und wurde gerade ins deutsche übersetzt: „Der größere Teil der Welt“ ist im Schöffling Verlag erschienen.
Die Hauptfiguren des Romans, der in verschiedenen Episoden aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird, haben irgendwie mit dem Musikbusiness zu tun. Da ist Bennie Salazar, der Musikproduzent, sein Mentor Lou, seine Assistentin Sasha…
Die Figuren erleben Höhen und Tiefen, erleben die Zeit des Rock n Roll bis hin zu facebook und einer Zukunft, in der nahezu jedes Baby mit einem
Handy aufwächst und schon mit wenigen Monaten die ersten Musiktitel kaufen kann.
Der Roman sprüht vor Ideen, die Figuren sind plausibel und ihre Geschichten berühren. Noch dazu überzeugt Jennifer Egan mit den sehr unterschiedlichen Perspektiven. Wir erleben, wie ein Diktator eine Imagekampagne durchläuft, wie ein junges Ehepaar am spießigen Vorort scheitert, und wie ein heruntergekommener Musiker zum Star der Zukunft wird, weil er authentisch ist, weil er abseits der Gesellschaft gestanden hat und dennoch, auch durch seine Ausstrahlung und sein Können, plötzlich der Menge aus dem Herzen spricht. Wir erleben auch, wie dieser Erfolg vorher durch bezahlte Blogger ermöglicht wird…
Warum das Buch mich dennoch nicht restlos überzeugen konnte – es stellt viele Facetten dar und kann dadurch den Figuren nicht so viel Zeit und Tiefe widmen. Manchmal wird zu schnell vorgespult, oder es folgt schon der nächste Titel. Die Einsichten und den beeindruckenden Stil Jennifer Egans sollte man dennoch nicht verpassen.
Also vier von fünf Pfoten und eine Leseempfehlung!

Der Glatzkopfgeier frisst den Morgen

Ein Mann treibt durch das Leben. Sein Fixpunkt: die geliebte Freundin aus Kindertagen. Doch die Kraft sich ihr zu nähern bringt er nicht auf. Er kreist um sich, sucht sich in seinen Handlungen zu erhalten und zu verstehen. 
Zwei Beziehungen führt der Mann mit Frauen, die er zwar liebt, aber nicht auf Augenhöhe, in geistiger Verwandschaft oder tiefem Begehren. Die erste stürzt er ins Unglück, mit der zweiten führt er eine glückliche Ehe. Bis die Geliebte aus Kindertagen wieder auftaucht und alles in Frage stellt. 
Ein spannendes,poetisches,erotisches, mitunter philosophisches Buch. Vieles bleibt ungeklärt und offen – es geht nicht um Erklärung sondern um das Ungeklärte: Wie fügt sich unser Leben? Warum handeln, entscheiden wir so oder so? Wie zusammen leben? Wie für den anderen da sein? 
Ein wenig ist die Geliebte Shimamoto eine Parabel für diese 100%ige kompromisslose Liebe, die im realen Leben nicht erreichbar scheint. Zu Zeiten scheinbar endloser Wahlmöglichkeiten zweifelt Hajime immer wieder an den Gefährten seines Lebens und sich selbst. Hat er sich deshalb eine Shimamoto erträumt? Oder ist es die Unmöglichkeit und der ungelebte Alltag der die Beziehung zu Shimamoto so perfekt macht?

Und Nietzsche weinte

Und Nietzsche weinte von Irvin D Yalom
Nietzsche und Freud. Vermutlich hat jeder, der sich mit ihren Werken befasste sich manches Mal gefragt, ob die Wege dieser beiden beeindruckenden Zeitgenossen sich jemals kreuzten, ob sich ihre in mancherlei Hinsicht verwandten Gedanken je gegenseitig befruchteten. Über Nietzsches Leben ist sehr viel bekannt, sein Leben wird beispielsweise detailliert in der Nietzsche-Chronik nachgezeichnet, seine Briefe, seine gesammelten Werke stehen zur Verfügung. Gerade Nietzsches Verhältnis zu den Frauen ist einerseits ein leerer Fleck in diesem Wissen, andererseits gibt es allerhand ‚Belege‘ die die Absonderlichkeit dieses Verhältnisses betonen: der bestmögliche Nährboden für Klatsch. Einen Kontakt zwischen Nietzsche und Freud gab es vermutlich nicht. 
Dieses Buch bietet nun einerseits eine reizvolle literarische Auspinselung des Verhältnisses Nietzsches zur Psychoanalyse. Andererseits bringt es ein wenig platt die altbekannten Geschichten von Nietzsches angeblichem Frauen-Trauma und den Resultaten in Leben und Werk. Während die Zusammenführung einiger Schriften Nietzsches mit der frühen Psychoanalyse sehr unterhaltsam ist, wirkt die Hinführung zur Therapie des Denkers streckenweise sehr gestelzt. Man spürt förmlich, wie ein Blick aus dem 21. Jahrhundert das 19. ausmalt und einige seiner beeindruckensten Protagonisten in einer Weise zusammenführt die sie wohl dazu brächte, sich im Grabe umzudrehen. 
Manchmal scheint es mir, dass das bekannte Photo Nietzsches im Profil einen übergroßen Einfluss hat. Der Nietzsche den Irvin D. Yalom zeichnet ist nun wirklich der hinreißende Fall eines bockigen,distanzierten aber genialen Patienten, dem sich der Therapeut dann nähert, seine Distanz aufbrechen kann und dann endlich weint er! Herzzereißend und schmalzig. Und ganz kann ich mich auch nicht des Eindrucks einer gewissen Unredlichkeit erwähren: Ist es nicht nurmehr bloßes name-dropping das Personal dieses Romans nach bekannten historischen Vorbildern zu benennen? Wäre der Roman ‚Und Hans-Otto weinte‘ ebenso gut verkauft worden? 
Zugute halte ich dem Buch aber neben einer sich deutlich steigernden Spannung und Sympathie für seine Figuren, dass es Lust auf eine eigene Begegnung mit Nietzsche (und auch Lou Salomé)macht. Außerdem zeigt es auch Defizite der Psychoanalyse, so zum Beispiel das Machtverhältniss zwischen Arzt und Patienten, oder der Verherrlichung die aus der Hoffnung entspringt, gerade dieser Mensch möge helfen können. Dem Autor gelingt es auch, Nietzsches Argumente glaubhaft in seiner Geschichte einzuweben ohne ihnen ihre kritische Kraft zu nehmen und sie zu einem bloßen Brevier zum Wohlbefinden zu verstümmeln. Die philosophische Lebensberatung wird als eine fruchtbare Abwandlung der psychoanalytischen Vorgehensweise beschrieben. Auch die Geschichte der Ehekrise des Arztes sowie die Bearbeitung seiner Obsession fand ich gegen Ende beeindruckend und plausibel. Dennoch schätze ich Bücher mehr, die eigene Erfahrung unumwunden zum Stoff machen und gerade wenn man literarische Größen wie Nietzsche zur Figur bemüht setzt man hohe Maßstäbe für das eigene Schreiben.

Der gute Mensch von Sezuan

Bertold Brecht: Der gute Mensch von Sezuan
Die Götter betrachten das Treiben und Leiden der Menschheit schon einige Zeit mit Sorge. Selbstzweifel über ihre Schöpfung treiben sie schließlich dazu, sich selbst auf die Erde zu begeben, um nach einem Menschen zu suchen, der nach Ihren Geboten leben und damit ein guter Mensch sein kann. Die Götter sind schon weit gereist, sie sind müde, traurig und erschöpft als sie endlich in der kleinen Stadt Sezuan ankommen. Niemand hat ihnen bisher Unterkunft gewährt, niemand sich als wirklich guter Mensch erwiesen. Sezuan, beschließen sie ist der letzte Ort in dem sie suchen wollen bevor sie sich das Scheitern ihrer Schöpfung eingestehen. Über den Wasserverkäufer der Stadt gelangen sie zu der Prostituierten Shen-Te. Diese gewährt Ihnen sofort ohne Ansehen ihres eigenen Vorteils Unterschlupf. Da sie in dieser Nacht nicht arbeiten kann, wird sie ihre Miete nicht mehr bezahlen Können. Die Götter erfahren von der mißlichen Lage, und beschließen ihrem ‚guten Menschen‘ ein wahrhaft moralisches Leben durch eine kleine Geldsumme zu ermöglichen. Shen Te eröffnet einen kleinen Tabackladen. Sie ist jedoch so hilfsbereit und gutmütig, daß sie in den Abgrund zurückgerissen zu werden droht. 
„Der Rettung kleiner Nachen 
Wird sofort in die Tiefe gezogen: 
Zu viele Versinkende 
Greifen gierig nach ihm.“ 
In ihrern Not verwandelt sich Shen Te in ihren Vetter Shui Ta. Als Shui Ta gelingt es ihr die eigene Existenz zu retten und ihre Wohltätigkeit als Shen Te aufzufangen. Als Shen Te sich jedoch verliebt und von einem egoistischen arbeitslosen Flieger geschwängert wird muß sie sich mehr und mehr in Shui Ta verwandeln. Der Vetter eröffnet eine Tabak-Fabrik und wird zum menschenverachtenden Ausbeuter. Der ehemalige Liebhaber Shen Tes wirft Shui ta nun vor diese ermordet zu haben und bringt ihn vor Gericht. Shen Te offenbart sich und die Götter kommen zu ihr hinab 
„Euer einstiger Befehl 
Gut zu sein und doch zu leben 
Zerriß mich wie ein Blitz in zwei Hälften. Ich 
Weiß nicht, wie es kam: gut sein zu andern 
Und zu mir konnte ich nicht zugleich 
Andern und mir zu helfen, war mir zu schwer.“ 
Brecht versteht es meisterhaft humorvoll und überspitzt darzustellen, was Adorno folgendermaßen formulierte: 
„Alle Einzelnen sind in der vergesellschafteten Gesellschaft des Moralischen unfähig, das gesellschaftlich gefordert ist,wirklich jedoch nur in einer befreiten Gesellschaft wäre.(… )Dem Einzelnen indessen bleibt an moralischem nicht mehr übrig, als [zu] versuchen, so zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein.“ 
Das nach meinem Geschmack unterhaltsamste und treffendste Stück Brechts! Lesen lohnt sich! Fünf Pfoten!

Ein Abgrund, in dem die Gesellschaft umkommen kann

In seinem 1942 veröffentlichten Roman Der Fremde beschreibt Albert Camus aus der Ich-Perspektive seiner Hauptfigur Mersault wie dieser gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft in Widersprüche gerät, die letztlich dazu führen, daß er zum Tode verurteilt wird. Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe schrieb Camus bezüglich der Aussage des Fremden: „In unserer Gesellschaft setzt sich jeder Mensch, der bei der Beerdigung seiner Mutter nicht weint, der Gefahr aus, zum Tode verurteilt zu werden“. Mersault, ein lediger Büroangestellter bekommt eines Tages ein Telegramm aus dem Altenheim, welches ihn über den Tod seiner Mutter informiert. Er nimmt sich zwei Tage Urlaub um zur Totenwache und anschließenden Beerdigung zu fahren. Es ist heiß, er ist übermüdet und er verhält sich nicht den Konventionen entsprechend, womit er ständig Anstoß erregt, (er weint nicht, möchte die Tote nicht noch einmal sehen, raucht bei der Totenwache, weiß nicht wie alt sie war). Mersault möchte mit den anderen im Einklang sein, ihre Sympathie gewinnen, aber er beherrscht die dazu notwendigen Gesten und Rituale nicht und wird außerdem stark durch seine körperlichen Bedürfnisse beansprucht. Am Tag nach der Beerdigung geht er schwimmen und beginnt ein Verhältnis mit einer jungen Frau, Marie Cardona. Sie ist kurzzeitig verstört, als sie erfährt, daß er am vorangegangenen Tag seine Mutter beerdigt hat, und Mersault stellt fest, daß man „sowieso immer ein bißchen schuldig“ ist. Er hat den Eindruck, daß sich durch den Tod seiner Mutter „nichts geändert hätte“ und setzt sein Leben den üblichen Gewohnheiten gemäß fort. Nach einem gewöhnlichen Arbeitstag trifft Mersault seinen Flurnachbarn Raymond Sintes, einen hitzigen jungen Mann, der im Viertel als Zuhälter verrufen ist. Dieser lädt ihn zum Essen ein und bittet ihn, einen Brief an seine ehemalige Geliebte aufzusetzen, um sie zu ihm zu locken. Er möchte sich an ihr rächen, weil sie ihn betrogen habe, er sie aber immer noch begehrt. Mersault erlebt Raymond als ihm gegenüber freundlich und sieht keinen Grund die Bitte abzuschlagen. Über das Vorhaben des anderen urteilt er rein formal: er kann den Wunsch nach Rache nachvollziehen und hält die Methode für erfolgsversprechend. Raymond sieht ihn daraufhin als seinen Freund. Schon am nächsten Tag gelingt das Rachevorhaben: Raymond verprügelt die Frau. Bald darauf lädt Raymond Mersault und Marie zu einem Tag im Strandhaus seines Freundes ein. Zunächst verläuft dieser Tag sehr positiv. Mersault genießt die Sonne und das Schwimmen mit Marie bei dem er große Nähe zu ihr empfindet. Am Nachmittag treffen er und die beiden anderen Männer jedoch bei einem Strandspaziergang auf eine Gruppe von Arabern, die das von Raymond verprügelte Mädchen rächen wollen. Einer von ihnen verletzt Raymond mit einem Messer, worauf beide Seiten sich zurückziehen. Um zu verhindern, daß Raymond auf die Araber schießt, nimmt Mersault seinen Revolver an sich. Da ihm die Atmosphäre im Strandhaus jedoch unerträglich erscheint, bleibt er alleine am Strand und kehrt im Taumel der unerträglichen Hitze zum Ort der Auseinandersetzung zurück. Nur einer der Araber ist noch da, der, als er Mersault sieht, ihm zur Warnung sein Messer zeigt. Mersault fühlt jedoch „nur noch die Beckenschläge der Sonne auf [seiner] … Stirn“, sieht undeutlich das bedrohliche Messer und umklammert den Revolver, worauf der Abzug nachgibt und ein tödlicher Schuß fällt. Er feuert noch vier weitere Schüsse auf den Toten ab. Mersault wird verhaftet, und ein Untersuchungsverfahren wird eingeleitet. Das Mersault bei der Beerdigung seiner Mutter “ Gefühllosigkeit an den Tag gelegt hätte“ stellt sich schon zu Beginn als das entscheidende Kriterium zur Bewertung seines Falles heraus. Der Pflichtverteidiger möchte ihn daher zur Unehrlichkeit überreden, doch Mersault spielt das Spiel nicht mit: er weigert sich zu lügen. „er weigert sich, seine Gefühle zu verhehlen, und sogleich fühlt die Gesellschaft sich bedroht.“ Der Untersuchungsrichter, ein überzeugter Christ, möchte Mersault zur Reue bewegen, damit Gott ihm vergeben kann, doch Mersault glaubt nicht an Gott und empfindet „eher als wirkliche Reue einen gewissen Verdruß“. In der Hauptverhandlung hat Mersault den Eindruck, daß alle sich unterhalten „wie in einem Club“ und er der einzig überflüssige, ein Eindringling ist. Er spürt, wie stark er von den anderen verabscheut wird und versteht in diesem Moment, daß er in ihren Augen schuldig ist. In seiner Abschlußrede fordert der Staatsanwalt Mersaults Tod, da „die Leere des Herzens, wie sie bei diesem Mann zu beobachten ist, ein Abgrund wird, in dem die Gesellschaft umkommen kann.“ 
Mersault lebt von Anfang an nach Camus Moral der Quantität, ohne daß eine Krise des Überdrusses oder ein Erwachen des absurden Bewußtseins thematisch würde. Für ihn zählt einzig das Gegenwärtige, welches er ohne Hoffnung oder Bedauern auslebt. Er scheitert in einer Gesellschaft, die ihn kraft ihrer heuchlerischen christlichen Moral verurteilt. Ausschlaggebend ist dabei nicht der Mord an einem Araber, sondern das unangepaßte, dem gesellschaftlichen Konsens widersprechende Selbstverständnis von Mersault. Die Gesellschaft sieht sich durch die Demontage ihres moralischen Horizontes gefährdet und fordert seinen Tod. Camus schreibt dazu in seinen Tagebüchern: „Sie haben deshalb beschlossen, Tugend zu nennen, was der Einrichtung der von ihnen gewünschten Gesellschaftsordnung dient. … [Meine Abrechnung] mit dieser Auffassung … bildet das Thema des Fremden.“