Mit ihr, das weiß ich, wäre ich ein anderer Mensch |
Der Diogenes Verlag hat ein Taschenbuch zum Sommer herausgebracht, ein Buch für den Strand, ja, aber eines voll Literatur! Zwölf Kurzgeschichten, ein Gedicht, 13 Autoren in einem hübschen Taschenbuch. Das gemeinsame Thema ist der Sommer, der so vielfältig sein kann. Er ist Schauplatz einer Familienkrise, einer Ehekomödie, einer Südseeromanze, einer Novelle, einer Groteske in großer Hitze, endlosen Regenwetters, philosophischer Betrachtungen, bewegender Entdeckungen, moralischen Ringens, Reisens, Umziehens und natürlich Lesens!
Meine Lieblingstexte aus diesem Band, für die sich der Erwerb schon allein lohnt, möchte ich noch näher vorstellen, gefallen haben mir aber auch „Huber spannt aus“ von Martin Suter, „Der Riffpirat“ von F.Scott Fitzgerald und „Wandertage in Südfrankreich“ von Kurt Tucholsky. Enttäuschend fand ich hingegen den etwas altväterlichen Text von Stefan Zweig sowie die moralinsaure Erzählung von Bernhard Schlink.
Der Text „Bin ich schön?“ von Dorris Dörrie erzählt treffend von der Suche nach Identität in einer Welt der Oberflächlichkeit. Eine Mutter, die dem Schönheitsideal schon lange nicht mehr entsprechen kann fühlt sich austauschbar durch jene, deren Bäuche und Schenkel noch straff sind. Sie strebt nach Perfektion und angesichts eines Erbes eröffnen sich scheinbar unendliche Möglichkeiten, die ihr das Verweilen bei etwas erschweren. Sie scheint bewegt von einer tiefen Unsicherheit und Melancholie, die ihre Kinder und ihr Mann nicht besänftigen können. Die Tochter möchte erwachsen sein, und die exclusiven, modischen Bitex Sonnenbrillen werden ihr zum Herzenswunsch, den die Mutter nicht erfüllen möchte, weil er aus der Werbung kommt. So wird der Wunsch nach der Sonnenbrille zum Angelpunkt um den herum sich das entwachsen der Tochter in die bedrückende Gewißheit der Warenwelt hinein entfaltet. Eine hervorragende Erzählung.
Eine Entdeckung war für mich die Autorin Zsuzsa Bánk, die mit der Erzählung „Heißester Sommer“ in diesem Band vertreten ist. Die Geschichte über eine Familie, die auf den Spuren der Vergangenheit zu einem einsam gelegenen Bauernhof fährt ist atmosphärisch und poetisch und macht Lust auf mehr!
Der Text „In der Sonne“ von Walter Benjamin begleitet einen Spaziergänger, der in der Hitze des Tages über eine Insel läuft. Er versucht die Umgebung zu erfassen, er denkt zunächst an die Bezeichungen der Pflanzen und Tiere, die er nicht kennt. Dann scheint ihm das Summen einer Hummel die Botschaft des Sommers zu enthalten. Schließlich legt sich die eigene Phantasie über die Landschaft, gibt ihr Bedeutung, „nichts bleibt und nichts verschwindet“, alles ist wie zuvor, nur ein wenig anders.
Die Erzählung „Wie Zugvögel“ von Tim Krohn beschreibt ein junges Paar, dass auf das Land gezogen ist. Der Sommer lässt ihnen ihr Haus als Paradies erscheinen, doch der Herbst stellt ihre wechselhaften Gefühle auf die Probe und lässt eine Sehnsucht auf das Weiterziehen aufkommen.
Italo Calvino beschreibt in der Erzählung „Abenteuer eines Lesers“ genial und humorvoll die Freuden und die Widersprüche in die sich der begeisterte Leser verwickeln kann. Ein junger Mann fährt an die See, um zu lesen. Die angenehme Umgebung, die er in den Lesepausen genießt ist der Hintergrund für sein Abtauchen in die Literatur. Er ist entspannt und glücklich. Dann jedoch kommt Spannung in den Urlaub, und die Realität fordert ihn auf den Blick vom Buch zu heben…wird es ihm gelingen?
Eine dreipfotige Leseempfehlung und vier Sterne für diesen Band!