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Gut ist das Gegenteil von Gutgemeint

Alfred Irgang ist ein interessanter, liebenswürdiger und hilfsbereiter Mensch. Er betrachtet die Dinge mit einem demokratischen Blick, der ihnen allen Wert zuerkennt. Wiewohl er einst, als Student der Geschichte, eine Doktorarbeit über mittelalterliche Ministeralien zu schreiben gedachte, konnte er nicht umhin kommen auch solche Dokumente aufzubewahren, die weder im engeren noch im weiteren Sinne mit seinen eigenen Forschungen zusammenhingen: „Er hätte eine Anlage zu einem Wissenschaftler gehabt, wenn er nicht beim Sammeln stehengeblieben wäre.“ Stets sieht er in den Dingen ihr Potential Wissen zu vermitteln, sich selbst oder andere zu erfreuen. Seine Sammelleidenschaft macht beim archivieren von Zeitungen und Journalen oder skurrilen Prothesen keineswegs halt. Auch Joghurtbecher bewahrt er liebevoll, inklusive des Verzehrdatums. Jeden Freitag besucht Alfred den Stammtisch des Philosophie Professors Gregor Voss, den er noch aus seinen Studienzeiten kennt. Der illustre Kreis, außerdem bestehend aus der Schriftstellerin Dora Stein, dem Anglisten Otto Unlauter, der Studentin Brigitte Schneider, der Sozialpädagogin Uta Aufbau und der Künstlerin und Therapeutin Kyra Wiesel, ist sein einziger zwischenmenschlicher Bezugspunkt. Stets bemüht er sich seinen Freunden etwas für sie hilfreiches aufzusammeln und mitzubringen. Diese wollen ihn jedoch unter der Führung von Uta Aufbau von seinem Sammeln abbringen und verweigern in pädagogischer Manier die Annahme. Die Schriftstellerin beginnt indessen sich für den literarischen Gehalt von Alfred Irgangs Leben zu interessieren, während die Künstlerin mit Alfreds Sammlung einen Galeristen beeindrucken will. Immer deutlicher offenbart sich, daß die am Stammtisch versammelten gebildeten Gutmenschen die Andersartigkeit des Sammlers nicht ertragen. Sie erheben sich über ihn und machen ihn zum Objekt ihrer Zwecke. Sie glauben zu wissen, was gut für ihn sei, und das sein großes Erbe ihm nur schade: „nur das Geld ermöglicht es ihm, sich gegen die Gemeinschaft zu stellen“. Sie verlangen von Alfred, daß er ein ihren eigenen Maßstäben entsprechender normaler Mensch werden solle, sie wollen ihn „austrocknen“ und „einen Leidensdruck erzeugen“. Alfred trifft inzwischen auf einem seiner nächtlichen Streifzüge die stumme Matroschka. Sie folgt ihm fortan überall hin, und nachdem er seine Angst vor ihr überwunden hat entdeckt er mit der neuen Gefährtin, die ihn akzeptiert wie er ist, das Lachen wieder. Alfred sieht mit Wohlgefallen, wie seine Dinge ihm stapelweise entgegenwachsen. Und nun kann er seine Freude, seine Kunst, mit jemandem teilen: „Teilweise fühlte er sich den Konzeptkünstlern nahe, Hanne Darboven oder Christian Boltanski …Auch diese Künstler … wollten etwas bewahren, wollten die Zeit anhalten, wollten sich ihrer Geschichte vergewissern.“ Alfred ist so glücklich in seinem Leben wie schon lange nicht mehr, doch in Bezug auf Uta Aufbau hat er düstere Vorahnungen: „Diese Frau mit ihrer sozialen Energie würde ihn noch vernichten.“
‚Der Sammler‘ überzeugt durch die gelungene Darstellung des Alfred Irgang. Dessen Leidenschaft Jenseits der Norm hindert nicht seine sympathische Menschlichkeit und wird nachvollziehbar. Die Gutmenschen zeigen hingegen in Hochmut und Eigeninteresse ihre Unmenschlichkeit.