Der gute Mensch ist ein Idiot

Seit seiner Kindheit leidet der Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin unter Epilepsie. Bis zu seiner Behandlung in einem Schweizer Sanatorium hatte ihn diese Erkrankung so stark eingeschränkt, daß er nach eigenem Bekunden beinahe ein Idiot gewesen war. Zu Beginn des Romans kehrt Fürst Myschkin aus seinem Schweizer Sanatorium zurück. Er fährt mit der Eisenbahn nach St. Petersburg, und obgleich er unzureichend gekleidet und mit keinerlei Geld ausgestattet ist schaut er den Menschen und den Umständen die ihm begegnen vertrauensvoll entgegen. Diese offene und Teilnahmsvolle Persönlichkeit des Fürsten läßt ihn den meisten Menschen weiterhin als einen Idioten erscheinen. Myschkin besitzt jedoch eine beinahe hellseherische Gabe im Einschätzen von Menschen und Beziehungsgeflechten und gewinnt dadurch die Achtung der anderen. Schon am Tag seiner Anreise trifft der Fürst auf zwei Frauen von denen sein weiteres Leben geprägt sein wird. Die eine Frau ist Nastassja Filippowna Baraschkowa. Die junge Frau wurde als junges verwaistes Mädchen zunächst auf Kosten des Finanzmagnaten Afanassi Iwanowisch Tozki erzogen. Als dieser ihre ungewöhnliche Schönheit bemerkt, macht er das Mädchen auf einem abgelegenen Landgut zu seiner Mätresse. Die unschuldige ‚Gefallene Frau‘ leidet an diesem Schicksal so sehr, daß sie sich ständig auf selbstzerstörerische Weise quält:
„Diese unglückliche Frau ist zutiefst überzeugt, daß sie das lasterhafteste Wesen auf der Welt ist. (…) Zwar ruft sie alle Augenblicke fast ekstatisch, daß sie keine Schuld an sich erkenne, sondern ein Opfer der Verhältnisse, eines Wüstlings und Übeltäters sei, doch was sie Ihnen auch immer sagt, Sie müssen wissen, daß sie als erste sich nicht glaubt und mit allen Fasern ihres Gewissens vom Gegenteil überzeugt ist, das heißt sich selbst für schuldig hält.“
Fürst Myschkin hat unendliches Mitleid mit Nastassja: um ihr zu helfen will er ihr seine gesamte Zukunft widmen ‚ doch er scheitert:
„Als ich versuchte, diese Finsternis zu erhellen, verursachte ich ihr damit solche Qualen, daß mir jedesmal das Herz weh tut, wenn ich an diese schreckliche Zeit zurückdenke. Es war wie ein Stich in die Brust, dessen Schmerzen nie vergehen.“ (S.595)
Die andere Frau ist die ebenfalls wunderschöne Aglaja Jepantschina, eine der drei Töchter der Generalin Jelisaweta Prokofjewna Jepantschina. Sie erscheint dem Fürsten wie ein ’neues Morgenrot‘ und er verliebt sich in sie. Aglaja, von Ihrer Familie wie ein Flaschengeist abgeschirmt und in besten Absichten unterdrückt, beginnt ebenfalls sich in den Fürsten zu verlieben:
„Ich halte Sie für einen höchst ehrlichen und wahrheitsliebenden Menschen, ehrlicher und wahrheitsliebender als alle anderen, und wenn man von Ihnen sagt, es sei mit Ihrem Verstand… ich meine, Ihr Verstand sei manchmal krank, dann ist das ungerecht, davon bin ich überzeugt (…) denn wenn Ihre Krankheit auch tatsächlich ihren Verstand beeinträchtigt (…)so ist die wichtigere Vernunft bei Ihnen doch besser in Ordnung als bei all den anderen, die davon nicht mal träumen können, denn die Vernunft hat zwei Seiten, eine wichtigere und eine unwichtige“. (S.588)
Mit dem Fürsten Myschkin hat Dostojewskij die literarische Figur des vollkommen schönen, unschuldigen und moralisch guten Menschen geschaffen. Selbst dieser Mensch vermag es jedoch nicht, sich selbst oder einen der verzweifelten, unterdrückten, beschädigten Menschen um sich herum zu erretten. Der Roman ist schon allein aufgrund der unglaublich stimmigen und präzisen psychologischen Zeichnung seiner Charaktere in höchstem Maße lesenswert! 

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