Archiv der Kategorie: Roman

Träume und Geschichten die verwandeln

Als Vogel könnte sie zur Schwester zurück und sich wieder in ein Mädchen verwandeln – schließlich verwandelt sie sich jedoch in eine mutige Frau.
Die 13 jährige Emma wird von ihren Eltern in ein Kloster-Internat gebracht. Die Eltern sind Atheisten, aber Emmas große Schwester ist plötzlich  krank geworden und es ist die einzige Möglichkeit.
Emma ist ein kluges Mädchen, behütet aufgewachsen. Entsprechend dem Zeitgeist im Jahre 1961 wurde sie nicht aufgklärt, ist in der Sprache der Nonnen:unschuldig. Die Regeln im Kloster sind streng und körperfeindlich, das Essen schmeckt schal, muss aber gegessen werden. Briefe nach Hause werden zensiert.
 Emma kennt sich in der Welt der Religiösität mit ihren Gebeten, Heiligengeschichten und (Aber-)gläubigen Regeln (Bei Zwein ist der Teufel dabei) nicht aus. Sie bewegt sich dort zunächst ebenso naiv wie in der geheimen Welt der Schülerinnen.
Sieben Mädchen treffen sich jede Nacht in einer Besenkammer, spielen verbotene Spiele, singen verbotene Lieder und erzählen verbotene Geschichten.
Mit der Zeit jedoch erfährt Emma ausgerechnet in jenem so abgeschotteten und strengen Internat mehr über das Leben als sie Zuhause je gelernt hatte.
Emma ist eine Träumerin, so bewahrt und lebt sie ihre Wünsche und Gedanken, findet Trost in der Ausweglosigkeit. So träumt sie davon sich in eine Taube zu verwandeln und zu ihrer Schwester zurückzukehren.
Immer mehr erkennt sie, dass sie dieses Innere nach außen tragen muss um etwas zu bewirken.
Sie entscheidet sich für ihre Gedanken und Ansichten einzustehen.
Der Roman ‚Unbewohntes Herz‚ von Marita de Sterck ist ein schönes Jugendbuch, aber auch für Erwachsene eine lohnende Lektüre. Das Buch ist schön geschrieben, phantasie und humorvoll.
Eine viereinhalbpfotige Leseempfehlung!

Ein leiser Roman, damit die Kinder nicht aufwachen

Im Roman „Die Schwerelosen“ von Valeria Luiselli wird in kurzen Abschnitten erzählt, die auf den ersten Blick aussehen wie Aphorismen.
Die Abschnitte sind so kurz, weil hier eine Mutter schreibt. Sie schreibt, wenn das Baby schläft. Sie schreibt einen leisen Roman, sie schreibt einen Roman in den wenigen Momenten der Ruhe. Die Form des Buches ist durchdrungen von dieser Mutter und ihrer Familie. Die aphoristischen Textstücke sind verschachtelt wie das Haus, in dem die Familie wohnt, und das die Mutter nie verlässt. 
Sie schreibt ein Buch über ihre Zeit als Übersetzerin in einem kleinen Verlag in New York. Die junge Frau lebt am Rande, am Rande ihrer Wohnung, am Rande der Stadt. Sie füllt ihr Leben, ihre Wohnung mit Menschen, mit ihrer Freundin und mit Männern. Doch alles ist in der Schwebe, nichts nimmt eine feste Form an.
Wenn die junge Frau in ihrem roten Mantel durch die Stadt streift sieht sie sich selbst. Unterwegs zu sein, heißt da zu sein.
Eines Tages entdeckt sie in einer Bibliothek Briefe des Dichters Gilberto Owen. Er hatte vor Jahrzehnten nicht weit von ihrer Wohnung entfernt gewohnt. Dieser Dichter fasziniert sie, sie will dass er übersetzt und veröffentlicht wird. In ihr Leben kommt Verbindlichkeit – der Geist des Dichters ist ihr näher als die Lebenden. Manchmal sieht sie ihn in einer parallel fahrenden U-Bahn sitzen.

Wer schreibt, bestimmt das Geschriebene, kann sich in ihm distanzieren, sich verlieren und von der erschaffenen Welt auch bestimmt werden. Die Realität und die Fiktion vermischen sich, mal fruchtbar, mal beschwerend.
Der Ehemann liest immer wieder Textabschnitte seiner schreibenden Frau, liest über ihre Liebschaften, über ihr Innerstes  – und die Familie, ja das ganze Haus drohen auseinanderzubrechen.
Vielleicht schriebt auch Gilberto Owen dieses Buch, schreibt in Philadelphia ein Buch über eine Frau, die in Mexiko City in ihr Haus eingeschlossen ist. Auch das Leben des Dichters ist geprägt von dem Gefühl zu verschwinden. Und manchmal sieht er in der UBahn eine junge Frau in rotem Mantel.

Im Roman „Die Schwerelosen“ von Valeria Luiselli eröffnet sich dem Leser das Spannungsfeld zwischen Ungebundenheit und Familie, Fiktion und Realität, Autorschaft und literarischer Figur,
Intellektualität und Körperlichkeit.
Es handelt vom verschwinden: dem Verlassen einer Stadt, eines Partners, einer Zeit, eines Körpers. Dem Verlassen der Realität. Und vom wieder-auftauchen: aus der Menge, aus einem Buch, aus der Vergangenheit, der Bibliothek, der Zukunft, dem Haus, dem Traum und der Sprache.

Das Buch scheint in viele Notizen zu zerfallen, aber es wird immer klarer, dass sie eine horizontale Komposition bilden. Das Buch ist spannend, voll Witz, Erkenntnis, Schwere und Bedrückendem.
Eine eindeutige Leseempfehlung ohne Wenn und Aber!!!

Die Vergangenheit abschließen ohne sie wegzuschließen

Eine Schauspielerin in der Mitte ihres Lebens, erfolgreich und in geregelten Bahnen, erfährt, dass sie einen Halbbruder in Amerika hat. Ein Treffen in München, ein Foto, ein Gespräch, eine Bitte: erzähle mir von unserem Vater.
Das Leben der Frau gerät aus den Fugen, die Vergangenheit kommt aus den Schubladen, breitet sich aus und verschlingt sie. Der unbekannte Bruder scheint ihr so nah zu stehen, der Freund scheint so weit weg. Das Leben erscheint ihr plötzlich unecht, alle Gewissheiten ausgewischt. Sie fühlt sich wie eine ewig Spielende, Lügende. Die Vergangenheit hat noch am meisten Realität, denn die kann sie fühlen, so sehr, wie sie die Gegenwart nie fühlen kann. Der Schmerz aus der Vergangenheit ist überwältigend, ihre Versicherung in der Gegenwart ist, nicht mehr mitzufühlen.

Das Erzählen, das Aufschreiben ihrer Vergangenheit lässt alles einbrechen, auch diesen Schutzwall.
Ein Moment der Fürsorge: So ein Kopf hält viel aus.
Dass der Vater unter Alkohol aggressiv war und die Familie mit tragischen Folgen bedrohte und misshandelte und auch die Momente der Nähe, der Fürsorge, der Liebe, der Bemühungen des Vaters, alles steht in ihrem langen Brief an den Bruder, steht nebeneinander, darf bestehen und ein befreiendes Bild formen.

„Was wir erben“ ist ein Roman, der angefüllt ist mit bewegenden Figuren und Begebenheiten. Absurde politische Verwicklungen, Missstände, Konventionen und Vorurteile schneiden in das Leben der Protagonisten ein. Sie begegnen ihnen mit Ideologie, Opportunismus, Pragmatismus, Wahrhaftigkeit und Märchenhaftigkeit.

Das Private und das Politische sind nicht zu trennen und doch sind es die eigenen Handlungen und Gefühle, die Entscheidungen und Grundsätze, die Frage nach der Wahrhaftigkeit und Integrität der eigenen Person, die das Gewissen beschäftigen.
Was wir erben, können wir nicht bestimmen. Doch wir können ein Verhältnis zu diesem Erbe finden, es betrachten und zulassen und erzählen. Und es dadurch vielleicht abschließen, ohne es wegzuschließen. Abschließen als eine der Geschichten, die zu uns gehört und die uns prägt – aber nicht bestimmt.
Eine vierpfotige Leseempfehlung für diesen bewegenden und vergnüglichen Roman!

Breite Stirn, Adlernase, stechender Blick


Mario Vargas Llosa erzählt in seinem autobiographischen Roman „Tante
Julia und der Schreibkünstler“ von einer skandalträchtigen Liebe und
einem herausragenden Erzähler.
Das Buch lässt den Leser in meisterhaft ausgebreitete Welten eintauchen.
Lima, Peru, in den fünfziger Jahren.
Der junge Mario arbeitet bei einem von zwei Radiosendern der Genarros.
Er paraphrasiert Meldungen aus der Zeitung für die Nachrichtensendung
des „intellektuellen“ Senders, während im „populistischen“
Schwesternsender Hörspiele den Programmschwerpunkt bilden. Für diese
Hörspiele engagieren die Genarros einen erfolgreichen bolivianischen
Schreibkünstler.
Mario, der sich selbst im Schreiben von Kurzgeschichten versucht, ist
fasziniert von diesem Mann, der unermüdlich schreibt und
inszeniert und dessen Geschichten eine stetig
wachsende Hörerschaft in ihren Bann ziehen.
Ebenfalls aus Bolivien kommt Tante Julia, um einiges älter als Mario,
geschieden und auf der Suche nach einem neuen Mann.
Zwischen den beiden beginnt eine Romanze, deren Verlauf stetig
spannender wird und in jedem zweiten Kapitel des Buches von einer
Geschichte des Schreibkünstlers unterbrochen wird.
In diesen größtenteils amüsanten Geschichten wird zum einen das Talent
des Schreibkünstlers dargestellt. Zum anderen eruieren sie die Fragen,
die sich der junge Mario stellt: was ist konventionell, was
intellektuell? Was erreicht die Menschen? Was ist trivial? Was ist
Literatur?
Konventionell sind zunächst die Helden und die
Muster der Geschichten.
Ein Held, breite Stirn, Adlernase, stechender Blick… kämpft sich mit
seinem unbestechlichen Wesen und seiner aufrechten Art zum Ziel seiner
Berufung.
Aber die Kunstfertigkeit, mit der die Geschichten geschrieben sind,
erzeugt Anteilnahme, die über ihre scheinbare Trivialität hinausgeht.
Und das Konventionelle verliert sich mehr und mehr. Die Geschichten
werden absurder und absonderlicher. Gerade in dieser Entwicklung,
dieser Lösung von der „Masche“ einer Hörspielfolge erlangen sie
literarische Qualität.
Das Buch ist lesenswert, interessant und auch stellenweise amüsant.
Etwas zu wenig Tiefe bekam die Liebesgeschichte, insbesondere Tante
Julia hätte mehr Raum gutgetan. Außerdem, obgleich die rassistischen,
schwulen-, frauen- und
argentinienfeindlichen Bemerkungen der Gesellschaft den Spiegel
vorhalten sollen und konterkariert werden, erschienen sie mir zum Teil
überzogen und überflüssig.
Das macht eine dreipfotige Leseenpfehlung.

Ich danke dem Suhrkamp Verlag, der mir ein Exemplar zur Verlosung am
Weltbuchtag zur Verfügung stellt!

Für den Rest des Lebens

Die Kraft der Liebe bindet über Ängste und Enttäuschungen hinweg, sie kann beflügeln und sie kann lähmend und zerstörerisch wirken. In Ihrem neuen Buch „Für den Rest des Lebens“ widmet sich die israelische Autorin Zeruya Shalev den Wirren des Liebens und Geliebtwerdens, des Anhängens und des Abstoßens dreier Generationen einer Familie. Die Allgemeingültigkeit der meisterhaft beschriebenen Verwicklungen von Mann und Frau, Eltern und Kindern, wird noch bereichert von der Beschreibung der besonderen israelischen Umstände. Die besondere Lebensweise im Kibbuz, die allgegenwärtige Bedrohung durch Ungerechtigkeit und Krieg in der Region und die Auswirkungen des Holocaust bestimmen die Geschichte der Familie entscheidend.
Die Geschichte beginnt mit Chemda, die mit Ihren Eltern in einem Kibbuz aufwächst. Der Vater ist ehrgeizig und streng, die Mutter größtenteils abwesend. Chemda ist eine Geschichtenerzählerin und Träumerin, doch der Vater, der sie erzieht, will aus Angst vor diesen unnormalen Eigenschaften ein praktisches, mutiges und normales Mädchen aus ihr machen. Die Schläge und Einschüchterungen des Vaters und die Abwesenheit der Mutter hindern Chemda an der Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Gefühle.
Warum binden wir uns an den Einen und nicht an den Anderen? Tut die Liebe uns gut, können wir sie erwiedern? Wann liebt ein Kind seine Eltern, und wann lieben die Eltern ihr Kind? Wann ist Liebe einengend, wann befreiend? Warum verwandelt sie sich manchmal in einen Kreislauf des Hasses? Diese Fragen beschäftigen Chemda und ihre Kinder Dina und Avner sowie ihre Partner und Kinder. Und auch wenn diese Fragen niemals völlig geklärt werden können, so entdecken Shalevs Figuren und wir mit Ihnen Entscheidendes dazu. Geschichten müssen erzählt werden, Nähe ist möglich und auch das Verzeihen. Insbesondere dann wenn aufgesetzte Vorstellungen abgestriffen und Barrieren fallengelassen werden können. Das Schmerzhafte können wir nicht abschaffen. Aber wenn es gelingt Raum zu schaffen, Raum in dem das Schmerzhafte, das Selbst, der Andere keinen Haß erzeugt, dann tut es sehr viel weniger weh.
Dringende Leseempfehlung von mir!!!
5 pfoten copy

Der Roman von Jennifer Egan – Wie ein gutes Mixtape

Der Roman ‚A visit from the goon squad‘ von Jennifer Egan hat den Pulitzer Preis 2011 gewonnen, und wurde gerade ins deutsche übersetzt: „Der größere Teil der Welt“ ist im Schöffling Verlag erschienen.
Die Hauptfiguren des Romans, der in verschiedenen Episoden aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird, haben irgendwie mit dem Musikbusiness zu tun. Da ist Bennie Salazar, der Musikproduzent, sein Mentor Lou, seine Assistentin Sasha…
Die Figuren erleben Höhen und Tiefen, erleben die Zeit des Rock n Roll bis hin zu facebook und einer Zukunft, in der nahezu jedes Baby mit einem
Handy aufwächst und schon mit wenigen Monaten die ersten Musiktitel kaufen kann.
Der Roman sprüht vor Ideen, die Figuren sind plausibel und ihre Geschichten berühren. Noch dazu überzeugt Jennifer Egan mit den sehr unterschiedlichen Perspektiven. Wir erleben, wie ein Diktator eine Imagekampagne durchläuft, wie ein junges Ehepaar am spießigen Vorort scheitert, und wie ein heruntergekommener Musiker zum Star der Zukunft wird, weil er authentisch ist, weil er abseits der Gesellschaft gestanden hat und dennoch, auch durch seine Ausstrahlung und sein Können, plötzlich der Menge aus dem Herzen spricht. Wir erleben auch, wie dieser Erfolg vorher durch bezahlte Blogger ermöglicht wird…
Warum das Buch mich dennoch nicht restlos überzeugen konnte – es stellt viele Facetten dar und kann dadurch den Figuren nicht so viel Zeit und Tiefe widmen. Manchmal wird zu schnell vorgespult, oder es folgt schon der nächste Titel. Die Einsichten und den beeindruckenden Stil Jennifer Egans sollte man dennoch nicht verpassen.
Also vier von fünf Pfoten und eine Leseempfehlung!

Der Glatzkopfgeier frisst den Morgen

Ein Mann treibt durch das Leben. Sein Fixpunkt: die geliebte Freundin aus Kindertagen. Doch die Kraft sich ihr zu nähern bringt er nicht auf. Er kreist um sich, sucht sich in seinen Handlungen zu erhalten und zu verstehen. 
Zwei Beziehungen führt der Mann mit Frauen, die er zwar liebt, aber nicht auf Augenhöhe, in geistiger Verwandschaft oder tiefem Begehren. Die erste stürzt er ins Unglück, mit der zweiten führt er eine glückliche Ehe. Bis die Geliebte aus Kindertagen wieder auftaucht und alles in Frage stellt. 
Ein spannendes,poetisches,erotisches, mitunter philosophisches Buch. Vieles bleibt ungeklärt und offen – es geht nicht um Erklärung sondern um das Ungeklärte: Wie fügt sich unser Leben? Warum handeln, entscheiden wir so oder so? Wie zusammen leben? Wie für den anderen da sein? 
Ein wenig ist die Geliebte Shimamoto eine Parabel für diese 100%ige kompromisslose Liebe, die im realen Leben nicht erreichbar scheint. Zu Zeiten scheinbar endloser Wahlmöglichkeiten zweifelt Hajime immer wieder an den Gefährten seines Lebens und sich selbst. Hat er sich deshalb eine Shimamoto erträumt? Oder ist es die Unmöglichkeit und der ungelebte Alltag der die Beziehung zu Shimamoto so perfekt macht?

Der gute Mensch ist ein Idiot

Seit seiner Kindheit leidet der Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin unter Epilepsie. Bis zu seiner Behandlung in einem Schweizer Sanatorium hatte ihn diese Erkrankung so stark eingeschränkt, daß er nach eigenem Bekunden beinahe ein Idiot gewesen war. Zu Beginn des Romans kehrt Fürst Myschkin aus seinem Schweizer Sanatorium zurück. Er fährt mit der Eisenbahn nach St. Petersburg, und obgleich er unzureichend gekleidet und mit keinerlei Geld ausgestattet ist schaut er den Menschen und den Umständen die ihm begegnen vertrauensvoll entgegen. Diese offene und Teilnahmsvolle Persönlichkeit des Fürsten läßt ihn den meisten Menschen weiterhin als einen Idioten erscheinen. Myschkin besitzt jedoch eine beinahe hellseherische Gabe im Einschätzen von Menschen und Beziehungsgeflechten und gewinnt dadurch die Achtung der anderen. Schon am Tag seiner Anreise trifft der Fürst auf zwei Frauen von denen sein weiteres Leben geprägt sein wird. Die eine Frau ist Nastassja Filippowna Baraschkowa. Die junge Frau wurde als junges verwaistes Mädchen zunächst auf Kosten des Finanzmagnaten Afanassi Iwanowisch Tozki erzogen. Als dieser ihre ungewöhnliche Schönheit bemerkt, macht er das Mädchen auf einem abgelegenen Landgut zu seiner Mätresse. Die unschuldige ‚Gefallene Frau‘ leidet an diesem Schicksal so sehr, daß sie sich ständig auf selbstzerstörerische Weise quält:
„Diese unglückliche Frau ist zutiefst überzeugt, daß sie das lasterhafteste Wesen auf der Welt ist. (…) Zwar ruft sie alle Augenblicke fast ekstatisch, daß sie keine Schuld an sich erkenne, sondern ein Opfer der Verhältnisse, eines Wüstlings und Übeltäters sei, doch was sie Ihnen auch immer sagt, Sie müssen wissen, daß sie als erste sich nicht glaubt und mit allen Fasern ihres Gewissens vom Gegenteil überzeugt ist, das heißt sich selbst für schuldig hält.“
Fürst Myschkin hat unendliches Mitleid mit Nastassja: um ihr zu helfen will er ihr seine gesamte Zukunft widmen ‚ doch er scheitert:
„Als ich versuchte, diese Finsternis zu erhellen, verursachte ich ihr damit solche Qualen, daß mir jedesmal das Herz weh tut, wenn ich an diese schreckliche Zeit zurückdenke. Es war wie ein Stich in die Brust, dessen Schmerzen nie vergehen.“ (S.595)
Die andere Frau ist die ebenfalls wunderschöne Aglaja Jepantschina, eine der drei Töchter der Generalin Jelisaweta Prokofjewna Jepantschina. Sie erscheint dem Fürsten wie ein ’neues Morgenrot‘ und er verliebt sich in sie. Aglaja, von Ihrer Familie wie ein Flaschengeist abgeschirmt und in besten Absichten unterdrückt, beginnt ebenfalls sich in den Fürsten zu verlieben:
„Ich halte Sie für einen höchst ehrlichen und wahrheitsliebenden Menschen, ehrlicher und wahrheitsliebender als alle anderen, und wenn man von Ihnen sagt, es sei mit Ihrem Verstand… ich meine, Ihr Verstand sei manchmal krank, dann ist das ungerecht, davon bin ich überzeugt (…) denn wenn Ihre Krankheit auch tatsächlich ihren Verstand beeinträchtigt (…)so ist die wichtigere Vernunft bei Ihnen doch besser in Ordnung als bei all den anderen, die davon nicht mal träumen können, denn die Vernunft hat zwei Seiten, eine wichtigere und eine unwichtige“. (S.588)
Mit dem Fürsten Myschkin hat Dostojewskij die literarische Figur des vollkommen schönen, unschuldigen und moralisch guten Menschen geschaffen. Selbst dieser Mensch vermag es jedoch nicht, sich selbst oder einen der verzweifelten, unterdrückten, beschädigten Menschen um sich herum zu erretten. Der Roman ist schon allein aufgrund der unglaublich stimmigen und präzisen psychologischen Zeichnung seiner Charaktere in höchstem Maße lesenswert!