Archiv für den Monat: Juni 2013

There’s something fishy going on…

Warum um alles in der Welt sollte man etwas über Fische lesen? Der Fisch ist doch allerhöchstens zweifelhaft (fishy), oder nicht? Solche Fischfremdheit hat Arezu Weitholz, die Autorin des Buches „Ein Fisch wird kommen – kleine Fischkunde mit Gedichten“ schon vorhergesehen. Im ersten Gedicht erklärt sie: wem Fische nicht auf den Geist oder auf die Nerven gehen, wer hingegen sogar Wert auf Fische legt, der solle anfangen zu lesen.
Da, genauer betrachtet Fische schon ziemlich wertvoll sind liest man weiter, und findet sich in einer faszinierenden Welt wieder. Aus Wortspielen, Anspielungen und erstaunenden Informationen hat die Autorin mit schwungvollen Bildern und heiter bis nachdenklichen Texten ein Werk geschaffen, nach dessen Lektüre man viel von und viel über Fische gelernt haben wird.
Es gibt tatsächlich Fische, die an der Luft atmen können und bei Dürre an Land gehen um nach neuen Tümpeln zu suchen. Und dass es den Bücherwurm gibt, und lesende Fische gegen den Strom schwimmen ist ja wohl common sense!
Ich gebe diesem intelligenten und wunderschön vom Kunstmann Verlag hergestellten Büchlein vier Pfoten! Und eine Empfehlung für Fischliebhaber und alle die es werden wollen…

Das Auge braucht was zu lachen

Ein schönes kleines Buch voller Poesie. Hans Stilett erzählt in kurzen Texten von seiner Kindheit. Es gelingt ihm die Erfahrungen des Jungen der er mal war gegenwärtig und lebendig zu machen. Er bewahrt so in der Erzählung Begebenheiten aus lange vergangenen Tagen, mach sie anschaulich. Und zugleich ruft er Erinnerungen ins Gedächtnis die in Variationen der eigenen Kindheit zugehören.
Eingeleitet wird das Buch von einem Montaigne Zitat: Ein kleiner Mensch ist ein ganzer Mensch, genauso wie ein großer. Ein Kind erfährt und fühlt und weiß, genau wie ein Erwachsener, der Blickwinkel mag ein anderer sein, nicht aber der Gehalt an Wahrem.

Schmelzende Schneeflocken auf dem Handschuh, Phantasien nach einem Sonnenstich, Beerenpflücken, Holzklauben, spielen mit den Freunden, erste Verliebtheit aber auch Tod, Krankheit und politische Unruhen erlebt der kleine Hans an seinem Kindheitsort Eulenrod.

Anrührend sind seine Beschreibungen der Mutter, die oft wenn alle lachen nach oben oder nach unten schaut, der er vertrauen kann und die einen Blick für das Schöne hat.
Faszinierend sind die Beschreibungen der damaligen Sitten, die gemeinsame Totenwache, das gemeinsame Backen, das Kohlenklauben und Beerenpflücken.

Ich kann das Buch jedem empfehlen, der einmal in die Zeit der eigenen Eltern oder Großeltern eintauchen mag (Generation um 1920). Hier wird der Alltag dieser Generation so dicht und nachvollziehbar beschrieben, wie man es von den Großeltern gerne gehört hätte. Es berichtet nichts außergewöhnliches, aber das außergewöhnlich gut.

Charlotte Salomon – Leben? Oder Theater?

Die Bilder von Charlotte Salomon haben mich tief beeindruckt, schon als ich sie auf einem Handydisplay sah. Auf der documenta 13 konnte ich dann etwa 48 Gouachen von ihr im Original sehen. Ich beschloss wenn möglich die ganze Geschichte dieses genialen künstlerisch-biographischen Theaterstücks kennenzulernen. Da die Gouachen jedoch sehr empfindlich sind, werden sie in der Charlotte Salomon Stiftung in Amsterdam im Archiv aufbewahrt und nur stückweise in Ausstellungen gezeigt.
Aber zum Glück ist im Prestel Verlag ein Band erschienen, der sämtliche Bilder versammelt. leider leider ist er inzwischen vergriffen, aber ich konnte ihn antiquarisch bekommen.
Charlotte Salomon hat ein Singspiel (Theaterstück mit Musik) geschrieben und gemalt, es sind Blätter zu wichtigen Themen ihrer Biographie, versammelt unter der grundlegenden Frage „Leben? Oder Theater?“
Im Leben von Charlotte Salomon gab es viel grausame Absurdität.
Ihre Mutter erzählte ihr sehnsüchtig vom Jenseits, bevor sie sich aus dem Fenster stürzte und sie war nicht die einzige Frau aus der Familie, die in solch tiefe Verzweiflung stürzte, auch Charlotte Salomons Tante, ihre Cousine und zuletzt ihre Großmutter begingen Selbstmord.
Charlotte Salomon setzt sich mit diesen düsteren Ereignissen meisterhaft auseinander. In einem Bild sieht man die Mutter im Bett, wie sie ihrer Tochter vom Jenseits erzählt, es ist die Szene einer Gute-Nacht-Geschichte. Doch die Tochter, der die Sehnsucht der Mutter nach diesem Ort nicht entgeht, stellt eine Bedingung: Die Mutter soll ihr schreiben, wie es im Jenseits ist, und ihr den Brief auf die Fensterbank legen. Im Bild steigt die Mutter als Engel aus dem Jenseits und erfüllt diesen Wunsch. Im Bett hält die Tochter die Mutter fest im Blick: sie will den Kontakt, will ihre Mutter nicht verlieren.
Dann jedoch passiert das Unglück und Charlotte Salomon hat in einem Bild den Prozess dieses Selbstmordes dargestellt. Die Füße der Mutter auf der Fensterbank, den Blick in die Tiefe. Der Blick von unten auf die Silhouette der Frau am Fenster, der Weg vom Bett an das Fenster. Das Bild erfasst die Atmosphäre dieser letzten Tat so genau wie ich es noch nie gesehen habe. Die Mischung aus Flucht, Verzweiflung, Willenlosigkeit und Getriebenheit. Im nächsten Bild zeigt Charlotte Salomon den aufgeschlagenen Körper, alles Leben und Handeln ist vorbei, die Mutter ist tot. 
Auf einem anderen Bild hat Charlotte Salomon dargestellt, wie übermächtig der Gedanke an den Tod der Mutter das Mädchen verfolgt. Ein großes Skelett nimmt das ganze Bild ein, dahinter sieht man das kleine Mädchen durch den Flur des Hauses laufen, geängstigt durch die Präsenz des Todes.
Eine weitere widersprüchliche Situation in Charlotte Salomons Leben ist ihre Beziehung zu einem älteren, verlobten Mann. Sie ist tief verliebt, doch die Stellung inmitten der beiden Verlobten und der Beziehung des Mannes zu ihrer Stiefmutter, die Abschiede, Herabsetzungen und Einschränkungen setzen ihr zu. Intensiv erfasst hat sie diese Atmosphäre in ihren Bildern. Man wird Zeuge der ersten Verabredung, des Liebesgeständnisses. Und dann in einem düsteren Bild, sagt der Geliebte „Auf Wiedersehen“ und geht mit hochgeschlagenem Mantelkragen die Strasse hinunter. Charlotte Salomon aber malt sich als schwarze, auf der Straße zusammengekauerte, Verzweifelte.
Das grausamste das Charlotte Salomons Leben verdüsterte war die Herrschaft der Nationalsozialisten. Zunächst erlebte sie anti-jüdische Propaganda, Aufmärsche und Pogrome, dann kam der Vater in ein Lager. Nach seiner Entlassung floh die Familie nach Frankreich.
Hier am Meer hatte Charlotte Salomon Zeit, über Leben und Theater nachzudenken und ihre befreienden Bilder zu malen.
Leider war diese Zeit viel zu knapp, denn der Nationalsozialismus holte Charlotte Salomon wie so viele nach Frankreich emigrierte Juden ein. Sie wurde deportiert und in Auschwitz ermordet. Bestürzend und unendlich traurig ist es, dass sie, mit ihrem sensiblen Genie, wie so viele Menschen von den Schergen dieser stumpfsinnigen Ideologie ausgelöscht wurde, deren Gewalt sie so treffend in ihren Bildern festgehalten hatte.
Charlotte Salomon erzählt in ihren Gouachen ihr Leben als Theaterstück, als Singspiel. Damit nimmt sie sich den Freiraum des Irrealen. Es sind keine strikt realistischen Bilder. Doch gerade in der Expressivität und in der Distanz durch die Form des Theaterstückes kann sie umso treffender und genauer, rücksichtslos malen was war.
Ich empfehle Ausstellungsbesuche und natürlich auch den Kauf des Buches!
Die Rechte scheinen bei Kiepenheuer und Witsch zu liegen…vielleicht legen sie diesen Prachtband ja wiedereinmal auf? 
Einen kleinen, lieferbaren Band gibt es im Suhrkamp Verlag, Astrid Schmetterling: Charlotte Salomon. 1917-1943: Bilder eines Lebens

Sprechen über Auschwitz

Die Ermordung, Folter und Ausbeutung von Millionen Menschen in den Konzentrationslagern der Nazis ist eine Zäsur in der Geschichte der Menschheit.
Von der Ideologie der Nazis wurden Menschen zu Nicht-Menschen erklärt, und es wurden Pläne geschmiedet, diese Menschen zu ermorden. Juden, politische oder religiöse Menschen, Behinderte und psychisch Kranke sollten verschwinden.
Es scheint für die Nicht-Involvierten unbegreiflich, was sich in den Lagern abgespielt hat. Man spürt, dass man trotz der Zeugnisse der Überlebenden, der Bilder, Filme und Zeichnungen und Akten, das Ausmaß dessen, was passierte, nicht erfassen kann.
Die Überlebenden, die Zeugen, berichten oft, dass einerseits die Realität des Lagers alle anderen Erinnerungen verblassen ließ, dass Ihnen andererseits bald unvorstellbar erschien, was sie selbst erlebt hatten.
Giorgio Agamben schreibt in seinem Buch ‚Was von Auschwitz bleibt‘, dass es falsch wäre, die Geschehnisse von Auschwitz vollständig verstehen und erklären zu wollen, aber auch, jede Erklärung zu verweigern und dadurch „die Vernichtung mit dem Ansehen der Mystik“ (28) zu versehen. Auschwitz ist also weder verstehbar noch un-verstehbar. Es gibt Zeugnisse, Erkentnisse, Fakten, die verstanden werden können. Und es gibt Ungesagtes, Unsagbares, Unbezeugbares.
Was sich in den letzten Momenten in den Gaskammern abspielte, was ein Mensch wahrnahm und empfand, dessen Lebensäußerungen sich auf ein absolutes Minimum zurückgezogen hatten, das konnte nur von außerhalb bezeugt werden, nicht durch eigene Erfahrung und daher nicht vollständig.
Genau auf diese Lücke in den Zeugnissen, auf das Unbezeugbare, schaut Agamben genau.

Die Überlebenden der Lager haben Leben in unvorstellbarer Entwürdigung erlebt, das „nackte Leben, auf das der Mensch reduziert wurde, fordert nichts und gleicht sich an nichts an: es ist selbst die einzige Norm“ (60).
Viele der Lagerinsassen mussten dabei soviel ertragen, dass sie nur noch die allernötigsten Lebensäußerungen tätigen konnten, sie schienen wie lebende Tote zu sein (im Lagerjargon wurden sie Muselmänner genannt) und ihr eigentlicher Tod schien den anderen kaum mehr ein richtiger Tod zu sein. Der Tod war allgegenwärtig, in den Sterbenden, den Muselmännern, dem Fliessband-töten in den Gaskammern. Der Tod war eine Normalität, er war seiner Würde beraubt, er wurde fabriziert.

Es ist bekannt, dass Überlebende des Lagers Schuld und Scham empfinden, während die Täter oftmals Schuld und Verantwortung von sich weisen.
Die Schuldgefühle der Überlebenden erklärt Agamben mit einem Zustand der Entsubjektivierung im Lager: „Alle sterben und leben hier anstelle eines anderen, grundlos, sinnlos; das Lager ist der Ort, an dem niemand wirklich an seiner eigenen Stelle sterben oder überleben kann“ (90). In seinem Buch „Das Menschengeschlecht“ beschreibt Robert Antelme das Erröten eines Studenten, der auf einem der Todesmärsche aus dem Lager zum Erschießen ausgewählt wurde, „in der Scham hat das Subjekt einzig seine Entsubjektivierung zum Inhalt, wird es Zeuge des eigenen Untergangs, erlebt mit, wie es als Subjekt verloren geht“ (91).

Giorgo Agamben zufolge hat sich im Konzentrationslager die Bio-Macht aufs äußerste zugespitzt, in dem hier der Mensch so zugerichtet wurde, dass er ein Überlebender war, der nicht Zeugnis ablegen konnte.

Was von Auschwitz bleibt, ist zum einen die Erkenntnis, dass der Mensch, der Zeugnis ablegt für den Menschen, der nicht mehr bezeugen kann, menschlich ist, und zum anderen die Warnung, dass das Spiel am Rande der Hölle, das Spiel in der Grauzone am Rande des Überlebens noch immer in Gang ist.

Ich empfehle das Buch sehr. Außerdem empfehle ich zum Thema die Bücher „Die Vernichtung der europäischen Juden“ von Raul Hilberg, „Das Menschengeschlecht“ von Robert Antelme und „Roman eines Schicksallosen“ von Imre Kertesz.

 

Für die Seele der Stadt

Bücher vermögen Räumen Tiefe und Behaglichkeit zu geben – auch öffentlichen Räumen. Gestern bin ich in Köln einem schönen öffentlichen Bücherschrank über den Weg gelaufen.
Aus solchen Schränken kann jeder kostenlos Bücher mitnehmen und für andere einstellen.
Eine wunderschöne Idee für Lesefreude, Teilen und eine schönere Stadt!
Ich habe gleich ausgiebig gestöbert, und beim nächsten Besuch werde ich neuen Lesestoff mitbringen…
Viele Städte haben schon mitgemacht und bringen Bücher wieder in den öffentlichen Raum. Wenn ihr Euch auf den Weg macht, geht doch auch mal wieder bei einer Buchhandlung vorbei. Ich werde hier demnächst einige meiner liebsten  Buchhandlungen vorstellen: #gegendasBuchhandlungsSterben
#fürdieSeelederStadt

Ein wunderschönes rotes Buch

Der Wagenbach Verlag feiert dieses Jahr seinen zweihundertsten Band in der Reihe SALTO. Das sind hochwertige, in rotes Leinen gebundene Bücher mit wertvollen Inhalten, die noch dazu preiswert erhältlich sind. Wahre Bücherschätze also. Ich feiere dieses Jubiläum mit dem Autor, der mich zu Wagenbach gebracht hat, und dessen Lyrik wie Prosa mich schon seit Jahren begeistert: Erich Fried.

Im Herbst 2009 erschien der 166. Salto Band, Alles Liebe und Schöne, Freiheit und Glück  Briefe von und an Erich Fried. Dieser Band, zusammengestellt von einer Gruppe von Studenten, die an der Universität Wien ein Fried Seminar bestritten hatten war für mich eine Entdeckung.

Erich Fried als Briefeschreiber kennenzulernen, und das in einem so schön zusammengestellten Band, dessen einziges Manko ist, dass man sich ihn umfangreicher wünscht, lohnt sich für jeden der Fried zu schätzen weiß.

Der Band strotzt nur so von wunderschönen Formulierungen und klaren Gedanken, nicht nur von Erich Fried, sondern auch von seinen Korrespondenten, unter anderem Heinrich Mann, Paul Celan, Jean Amery und Ilse Aichinger.

Die Briefe gewähren Einblick in die Situation in der Emigration, die Schwierigkeiten der Fluchthilfe, der Überschattung durch die Grausamkeiten im von Nazideutschland gegeißelten Europa, in die aufgeladene Stimmung zur Zeit von RAF und Rasterfahndung. Aber auch Einblicke in eine Dichterwerkstatt, in tiefsinnige und schöne Liebesbriefe, literarisches Mit- und Gegeneinander und in die Kunst auch auf tiefe Verletzungen und polemische Angriffe so zu antworten, dass die Würde des anderen wie die Eigene gewahrt bleiben.

Erich Fried nimmt sein Gegenüber ernst, und das erlaubt es ihm tiefsinnige Beobachtungen und zugleich Wärme zu vermitteln.

Paul Celan schreibt an Erich Fried, dass er sich gemeinsamen Gedanken und Gefühlen bewußt ist, die sie „nur stumm zu tauschen verstehen, weil ihre Sprache längst beim Schweigen in der Lehre steht“ (S.20) und Heinrich Mann beschreibt Erich Frieds enorme Ausdrucksfähigkeit an den Grenzen des sagbaren mit dem Lob, dass in seinen Gedichten „auch das Geahnte seinen geheimnisvollen Weg in das Wort nimmt“ (S.14).

Also, lest dieses Buch! Eine fünfpfotige Leseempfehlung für den schönen roten Band, weitere Empfehlungen zur Reihe SALTO folgen in Kürze…
PS: Eine sehr schöne Idee, dass im Innern des Buchumschlages eine bunte Sammlung von Signaturen Erich Frieds abgebildet ist…