Archiv für den Monat: November 2011

Der Glatzkopfgeier frisst den Morgen

Ein Mann treibt durch das Leben. Sein Fixpunkt: die geliebte Freundin aus Kindertagen. Doch die Kraft sich ihr zu nähern bringt er nicht auf. Er kreist um sich, sucht sich in seinen Handlungen zu erhalten und zu verstehen. 
Zwei Beziehungen führt der Mann mit Frauen, die er zwar liebt, aber nicht auf Augenhöhe, in geistiger Verwandschaft oder tiefem Begehren. Die erste stürzt er ins Unglück, mit der zweiten führt er eine glückliche Ehe. Bis die Geliebte aus Kindertagen wieder auftaucht und alles in Frage stellt. 
Ein spannendes,poetisches,erotisches, mitunter philosophisches Buch. Vieles bleibt ungeklärt und offen – es geht nicht um Erklärung sondern um das Ungeklärte: Wie fügt sich unser Leben? Warum handeln, entscheiden wir so oder so? Wie zusammen leben? Wie für den anderen da sein? 
Ein wenig ist die Geliebte Shimamoto eine Parabel für diese 100%ige kompromisslose Liebe, die im realen Leben nicht erreichbar scheint. Zu Zeiten scheinbar endloser Wahlmöglichkeiten zweifelt Hajime immer wieder an den Gefährten seines Lebens und sich selbst. Hat er sich deshalb eine Shimamoto erträumt? Oder ist es die Unmöglichkeit und der ungelebte Alltag der die Beziehung zu Shimamoto so perfekt macht?

Und Nietzsche weinte

Und Nietzsche weinte von Irvin D Yalom
Nietzsche und Freud. Vermutlich hat jeder, der sich mit ihren Werken befasste sich manches Mal gefragt, ob die Wege dieser beiden beeindruckenden Zeitgenossen sich jemals kreuzten, ob sich ihre in mancherlei Hinsicht verwandten Gedanken je gegenseitig befruchteten. Über Nietzsches Leben ist sehr viel bekannt, sein Leben wird beispielsweise detailliert in der Nietzsche-Chronik nachgezeichnet, seine Briefe, seine gesammelten Werke stehen zur Verfügung. Gerade Nietzsches Verhältnis zu den Frauen ist einerseits ein leerer Fleck in diesem Wissen, andererseits gibt es allerhand ‚Belege‘ die die Absonderlichkeit dieses Verhältnisses betonen: der bestmögliche Nährboden für Klatsch. Einen Kontakt zwischen Nietzsche und Freud gab es vermutlich nicht. 
Dieses Buch bietet nun einerseits eine reizvolle literarische Auspinselung des Verhältnisses Nietzsches zur Psychoanalyse. Andererseits bringt es ein wenig platt die altbekannten Geschichten von Nietzsches angeblichem Frauen-Trauma und den Resultaten in Leben und Werk. Während die Zusammenführung einiger Schriften Nietzsches mit der frühen Psychoanalyse sehr unterhaltsam ist, wirkt die Hinführung zur Therapie des Denkers streckenweise sehr gestelzt. Man spürt förmlich, wie ein Blick aus dem 21. Jahrhundert das 19. ausmalt und einige seiner beeindruckensten Protagonisten in einer Weise zusammenführt die sie wohl dazu brächte, sich im Grabe umzudrehen. 
Manchmal scheint es mir, dass das bekannte Photo Nietzsches im Profil einen übergroßen Einfluss hat. Der Nietzsche den Irvin D. Yalom zeichnet ist nun wirklich der hinreißende Fall eines bockigen,distanzierten aber genialen Patienten, dem sich der Therapeut dann nähert, seine Distanz aufbrechen kann und dann endlich weint er! Herzzereißend und schmalzig. Und ganz kann ich mich auch nicht des Eindrucks einer gewissen Unredlichkeit erwähren: Ist es nicht nurmehr bloßes name-dropping das Personal dieses Romans nach bekannten historischen Vorbildern zu benennen? Wäre der Roman ‚Und Hans-Otto weinte‘ ebenso gut verkauft worden? 
Zugute halte ich dem Buch aber neben einer sich deutlich steigernden Spannung und Sympathie für seine Figuren, dass es Lust auf eine eigene Begegnung mit Nietzsche (und auch Lou Salomé)macht. Außerdem zeigt es auch Defizite der Psychoanalyse, so zum Beispiel das Machtverhältniss zwischen Arzt und Patienten, oder der Verherrlichung die aus der Hoffnung entspringt, gerade dieser Mensch möge helfen können. Dem Autor gelingt es auch, Nietzsches Argumente glaubhaft in seiner Geschichte einzuweben ohne ihnen ihre kritische Kraft zu nehmen und sie zu einem bloßen Brevier zum Wohlbefinden zu verstümmeln. Die philosophische Lebensberatung wird als eine fruchtbare Abwandlung der psychoanalytischen Vorgehensweise beschrieben. Auch die Geschichte der Ehekrise des Arztes sowie die Bearbeitung seiner Obsession fand ich gegen Ende beeindruckend und plausibel. Dennoch schätze ich Bücher mehr, die eigene Erfahrung unumwunden zum Stoff machen und gerade wenn man literarische Größen wie Nietzsche zur Figur bemüht setzt man hohe Maßstäbe für das eigene Schreiben.

Der gute Mensch von Sezuan

Bertold Brecht: Der gute Mensch von Sezuan
Die Götter betrachten das Treiben und Leiden der Menschheit schon einige Zeit mit Sorge. Selbstzweifel über ihre Schöpfung treiben sie schließlich dazu, sich selbst auf die Erde zu begeben, um nach einem Menschen zu suchen, der nach Ihren Geboten leben und damit ein guter Mensch sein kann. Die Götter sind schon weit gereist, sie sind müde, traurig und erschöpft als sie endlich in der kleinen Stadt Sezuan ankommen. Niemand hat ihnen bisher Unterkunft gewährt, niemand sich als wirklich guter Mensch erwiesen. Sezuan, beschließen sie ist der letzte Ort in dem sie suchen wollen bevor sie sich das Scheitern ihrer Schöpfung eingestehen. Über den Wasserverkäufer der Stadt gelangen sie zu der Prostituierten Shen-Te. Diese gewährt Ihnen sofort ohne Ansehen ihres eigenen Vorteils Unterschlupf. Da sie in dieser Nacht nicht arbeiten kann, wird sie ihre Miete nicht mehr bezahlen Können. Die Götter erfahren von der mißlichen Lage, und beschließen ihrem ‚guten Menschen‘ ein wahrhaft moralisches Leben durch eine kleine Geldsumme zu ermöglichen. Shen Te eröffnet einen kleinen Tabackladen. Sie ist jedoch so hilfsbereit und gutmütig, daß sie in den Abgrund zurückgerissen zu werden droht. 
„Der Rettung kleiner Nachen 
Wird sofort in die Tiefe gezogen: 
Zu viele Versinkende 
Greifen gierig nach ihm.“ 
In ihrern Not verwandelt sich Shen Te in ihren Vetter Shui Ta. Als Shui Ta gelingt es ihr die eigene Existenz zu retten und ihre Wohltätigkeit als Shen Te aufzufangen. Als Shen Te sich jedoch verliebt und von einem egoistischen arbeitslosen Flieger geschwängert wird muß sie sich mehr und mehr in Shui Ta verwandeln. Der Vetter eröffnet eine Tabak-Fabrik und wird zum menschenverachtenden Ausbeuter. Der ehemalige Liebhaber Shen Tes wirft Shui ta nun vor diese ermordet zu haben und bringt ihn vor Gericht. Shen Te offenbart sich und die Götter kommen zu ihr hinab 
„Euer einstiger Befehl 
Gut zu sein und doch zu leben 
Zerriß mich wie ein Blitz in zwei Hälften. Ich 
Weiß nicht, wie es kam: gut sein zu andern 
Und zu mir konnte ich nicht zugleich 
Andern und mir zu helfen, war mir zu schwer.“ 
Brecht versteht es meisterhaft humorvoll und überspitzt darzustellen, was Adorno folgendermaßen formulierte: 
„Alle Einzelnen sind in der vergesellschafteten Gesellschaft des Moralischen unfähig, das gesellschaftlich gefordert ist,wirklich jedoch nur in einer befreiten Gesellschaft wäre.(… )Dem Einzelnen indessen bleibt an moralischem nicht mehr übrig, als [zu] versuchen, so zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein.“ 
Das nach meinem Geschmack unterhaltsamste und treffendste Stück Brechts! Lesen lohnt sich! Fünf Pfoten!